Grafl Sybille

Sybille Grafl ist am 4. Dezember 1978 in Nenzing/Vorarlberg geboren und lebt seit 1979 in Bludenz bei ihren Adoptiveltern Anneliese und Josef Grafl. Seit Oktober ’96 ist sie in der Werkstätte Bludenz der Caritas Vorarlberg beschäftigt. Im Jänner 1999 wurde in der Innenstadt von Bludenz „das Sprungbrett“ eröffnet, in dem sie von Anfang an mitarbeitete.

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Sie hat sich richtig entschieden oder wir haben es zusammen geschafft! (Hauptpreis 2016)

Sie hat sich richtig entschieden oder wir haben es zusammen geschafft!

Eines weiß ich noch, ich bin daheim auf die Welt gekommen und musste sofort mit der Rettung ins Spital.

Meine leibliche Mutter hat sich vielleicht schon während der Schwangerschaft Gedanken gemacht, wie es mit mir weiter gehen soll, wenn ich nachher auf die Welt komme.

Sie hat mich auf jeden Fall am leben gelassen und mir eine faire Chance gegeben. Sie machte sich sicher Sorgen wegen mir und wusste nicht, wie es mit mir und unserer Zukunft weitergehen sollte.

Arbeit, ein Kind haben, das wäre ihr vielleicht über den Kopf gewachsen.
Ich bin richtig froh. Sie hat sich richtig entschieden! Sie hat mir praktisch mein Leben geschenkt und ich habe es auch wollen.

Und meine Adoptiveltern, das sind schon meine Eltern, seit sie mich im Spital in Bludenz gesehen haben. Sie haben dafür gesorgt, dass ich am Leben bleibe und groß werde. Es war oft mühsam, wegen meiner Skoliose, den Operationen, die folgten und meiner vielen, großen Schmerzen, die ich nach wie vor immer mal wieder habe.

Aber wir haben es zusammen geschafft, ich habe alles und ich bin zufrieden!

Sie kümmern sich super um mich, sie sind einfach spitze, meine Mama und mein Papa, Anneliese und Josef. Gemeinsam sind wir ein unschlagbares Team.

Das hat schon begonnen, als sie mich jeden Tag im Spital zwei, drei, vier Stunden besucht haben, als ich noch im Brutkasten lag.

Als Baby war ich sehr schwach und konnte kaum Nahrung aufnehmen, höchstens vierzig oder fünfzig Gramm. Alle Stund hat Mama mich buddeln müssen, mehr habe ich nicht ai kriagt. Das war ganz schö mühsam, für Mama und für mi. Aber wir haben es geschafft, oder!?

Mit vier Jahren weiß ich noch, bin ich in den Kindergarten gegangen. Die Kindergartentante Auguste (Name geändert) hat mich nicht akzeptiert.

Schon beim Vorgespräch mit der Mama haben wir es gemerkt. Sie hat zu Mama gesagt, ich würde nicht in den Kindergarten passen und hat mich immer gleich weggeschuppst. Sie hat mich nicht mögen. Ich war wahrscheinlich ihr Opfer, weil ich behindert war. Und Melanie auch. Sie hat eine Erbkrankheit. Aber vor ihrem Papa hatte Auguste Angst, sagt
Melanie. Und vor meiner Mama hat sie dann später auch Spuntis gehabt. Die andere Kindergartentante, in meiner Gruppe, hat mich eher in Schutz genommen. Sie war so wie eine Mama zu uns. Ihr war es egal, ob mit Behinderung oder ohne, sie behandelte alle Kinder gleich und hat keinen Unterschied gemacht. Das nenne ich Inklusion oder Chancengleichheit.

Sie ist einmal hier auf meinem Arbeitsplatz, im Sprungbrett, gewesen und hat sich unser Keramikgeschirr angeschaut. Erst hatte ich ein komisches Gefühl, weil ich dachte, ist sie es, oder ist sie es nicht? Ich habe sie irgendwie gleich erkannt. Sie mich aber nicht. Darum habe ich sie auch nicht spontan angeredet, sondern erst mal abgewartet.Dann ist sie zu mir an den Tisch gekommen und hat sich angeschaut, wie ich Keramikgeschirr bemale und hat mit mir geredet. Auf einmal hat es ihr geschaltet, wer ich bin und hat mich gefragt, ob ich Sybille bin. Sie machte mir gleich ein Kompliment und sagte, dass ich super malen kann. Sie hat sich zu mir gesetzt. Dann sind wir ins Gespräch gekommen. Als sie gesagt hat, dass sie mich vom Kindergarten kennt und sich nicht vorstellen konnte, dass ich jemals so gut malen kann, habe ich mich gut gefühlt und mich gefreut, dass ich sie wieder mal gesehen habe.

Es hat auch Kinder gegeben, die haben nicht gerne mit mir gespielt, da kann ich mich noch gut dran erinnern. Die haben mich so eine Art wie ausgeschlossen. Melanie hat immer mit mir gespielt, wenn wir zusammen waren.

Als ich mal nicht mitspielen durfte, habe ich alle Puzzles vor lauter Wut mit einem Schlag auf den Boden geworfen. Dann haben sie blöd aus der „Wäsche“ geschaut. Die gute Kindergartentante, hat mich voll verteidigt und die anderen mussten alles aufheben. Aber sie haben mich immer noch nicht akzeptiert. Ob sie es heute täten, ich weiß es nicht. Außer Mona (Name geändert), die hat jetzt heute selber schon Kinder, kenne ich niemanden mehr. Aber heute redet sie mit mir. Ich erkenne die anderen nicht mal mehr auf dem Foto. I bin ja auch immer alleine im Eck gesessen und hab ein Nägelespiel gemacht.

Mit sechs Jahren bin ich dann endlich in die Volksschule gegangen. Dort habe ich Sascha kennengelernt. Er hatte auch Skoliose, genau wie ich. Komischerweise sind wir, ich glaube, ein Jahr danach auch zusammen in der Sonderschule in dieselbe Klasse gegangen.

Wir haben uns jeden Morgen im Schulhof getroffen und einen Mords Spaß gehabt. Endlich hatte ich einen Schulkollegen, mit dem ich spielen konnte. Er ist schon mehr gebeugt gegangen und ich glaube die Ärzte konnten nichts mehr für ihn tun. Jetzt wurden wir zu zweit gehänselt. Ihn haben die anderen Schulkollegen noch mehr gefuchst, als mich. Aber gemeinsam waren wir stark und er hat sich gewehrt. Ich habe mich eher zurückgezogen und er hat mich vor den anderen verteidigt.

Und Thomas, wir sind immer im Hasensprung vom Bus abgeholt worden, er hat mich auch beschützt.

Leider habe ich Sascha ganz aus den Augen verloren. Eigentlich schade. Oft frage ich mich, was ist aus ihm geworden, aber ich weiß es nicht. Vielleicht könnte ich mal nachforschen, denn Mama weiß auch nichts.

1991 wurde ich in Innsbruck in der Uniklinik, das erste Mal operiert. Danach bin ich ins SPZ Bludenz in die S-Klassen gegangen. Hier war es lustiger und nicht so hektisch wie in der Sonderschule. Und vor allem hatte ich nicht so einen Leistungsdruck. Nach der OP war ich am Anfang noch müde und musste immer mal wieder Blut abnehmen lassen und jeden Tag Medikamente nehmen.

Hier im Sonderpädagogischen Zentrum hatte ich gute Schulkollegen und Melanie, wieder troffen, die ich schon vom Kindergarten gekannt habe. Wir haben erst nicht glauben können, dass wir uns auch hier wieder sehen. Bis Ende unserer Schulzeit waren wir Freundinnen. Den Kontakthaben wir nie abgebrochen und jetzt sind wir seit vielen Jahren gute Arbeitskolleginnen.

Ach ja, und meine Arbeit im Sprungbrett Lädele der Caritas Werkstätte Bludenz, ist mir sehr wertvoll und wichtig. Es ist mir jeden Tag ein Anliegen, dass ich schaffen gehen kann. Viele Leute wären froh, sie hätten eine Arbeit. Und ich darf hier Keramikund Glasgeschirr bemalen, in die Apotheke und in die Stadt einkaufen gehen, also fast meinem Hobby nachgehen und werde von vielen Kunden bewundert.

Und lesen, moderieren, Texte diktieren kann ich hier auch noch und schnattern, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Hier bei der Arbeit bin ich auf jeden Fall selbständig und mutig. Da traue ich mir auch viel mehr zu als daheim. Doch langsam ziehe ich dort nach.

Jetzt gehe ich daheim allein in den Keller mülltrennen, Klopapier holen, im Zimmer abstauben, saugen, Fenster putzen, abwaschen und abtrocknen und langsam immer mehr Schuhe putzen. Manchmal koche ich Wurstnudeln, mach mir eine Päcklesuppe oder wärme mir vom Mittagessen etwas auf. Und das ist ein gutes Gefühl. Ich fühle mich frei, mutig und stark.

Als Kind fühlte ich mich ängstlich und jetzt, wo ich erwachsen bin, zeige ich keine Schwäche mehr und rede frei raus, was mir nicht passt. Wenn ich jetzt in den Kindergarten ginge, würde ich mich nicht mehr unterkriegen lassen, jetzt würde ich mich wehren!

Da wäre ich heute ganz anders. Ich würde ihnen zeigen, was ich kann. Vor allem die Angst, dass mich jemand verletzen oder angreifen könnte, kann ich heute loslassen. Jetzt bin ich spritziger, mutiger, flinker und vor allem, ich lass mich nicht mehr unterkriegen.

Herbert und das Violett (Ehrenliste 2009)

Im Februar 2009 sollte Herbert Monika die Farbe Violett benennen.
Er stand total auf dem Schlauch. Dann habe ich versucht ihm zu helfen:
„Herbert denk mal nach, wie heißt diese Farbe? Was gibt es in der Stadt
Bludenz, direkt Visavis vom Bahnhof, es stinkt, doch man kann es essen.
Du hast es auch schon gegessen und es schmeckt dir gut. Die Kuh
kommt oft in der Werbung“.
„Ein Wiener Schnitzel mit Pommfritt und Salat“, plapperte Herbert
prompt vor sich hin.
„Nein, du sollst sagen wie die Farbe heißt, mit vio fängt sie an“, sagte ich
dann.
„Bio? Nein, bio ist es nicht, vio, himmelblau oder grün“, sagte Herbert.
Er hat nicht nachgedacht und wusste nicht, was er sagen sollte.
„Denk an die Farbe auf der Milkapackung“, half ich ihm weiter. Doch er
stand total neben seinen Schuhen und wusste nicht weiter.
„Du hast die Farbe doch früher gewusst, Schnucki“, probierte ich ihm zu
schmeicheln.
„Was, iiii, vio, Tiroler Knödel”, sagte Herbert unkonzentriert.
„Heute spürst du wohl den Fön“, sagte ich schon leicht genervt.
„Nein, das ist die Hauptsprache“, meinte er trocken.
Ich streichelte ihm die Glatze und hoffte, er kann die Farbe jetzt
erkennen. Und tatsächlich, es hat gewirkt.
Endlich, ich hatte schon keine Geduld mehr, sagte er lustig:
„ Nicht himmelblau und grün, aber vio, viomett oder violett“.
Das war vielleicht eine schwere Geburt!