Rodenkirchen Jochen
Geboren am 25.3.1964, er kommt aus Köln und arbeitet bei Reha-Betriebe, Lebenshilfe Bergheim. Seine Hobbies sind Lesen, Hörspiele hören, Radio hören, Geschichten ausdenken, in andere Rollen schlüpfen.
Suchbegriffe:
- Nordrhein-Westfalen (Deutschland)
- Prosa
- Mut
Texte:
Mut (Schokopreis 2020/22)
Mutig sein ist: sich mehr trauen und ich bin mutig gewesen. Ich hab eine neue Freundin gefunden. Ich war mal mutig, als ich auf ein Friedhof war. Da traut man sich nicht hin. Angst ist das Gegenteil von Mut. Mut ist das Vorderteil, nicht die Rückseite. Mut ist das Gesicht. Angst lässt man hinter sich.
Meine Mutter (Ehrenliste 2019)
Meine Mutter heißt Margarete (Name geändert). Sie ist eine geborene Baumann. Sie ist 1939 geboren, am 10. September. Sie ist Einzelkind. Sie ist sehr verwöhnt und merkt es selber gar nicht. Ich habe noch einen Bruder. Sie nicht, sie konnte sich nicht austauschen und hängt sich an Kleinigkeiten auf – zum Beispiel über mich.
Sie sieht manche Dinge nicht ein, welche Probleme ich habe. Ich stand mal rein zufällig in der Küche und habe den Streit meiner Eltern mitgekriegt, das war für meine Mutter ein Problem. Sie hat mich rausgeschickt, aber ich wollte nicht gehen. Ich wollte teilhaben und zuhören, welche Probleme sie haben. Das hat meine Mutter nicht zugelassen. Sie hat mich rausgeschickt, und ich bin gegangen – wutentbrannt. Da war ich noch in der Schule. Mein Vater sagte: „Lass den Jung doch, lass den mal zuhören.“ Auf Kölsch hat er das gesagt. Meine Eltern streiten über mich. Mein Vater will sich durchsetzen, aber kommt nicht durch.
Ich seh das so: dass mein Bruder alles bekommen hat und ich nicht. Das war für mich eine Einmischung in meine Persönlichkeit. Das fand ich nicht fair – dass ich nie machen durfte, was mein Bruder machen durfte, ich aber nicht. Als ich von zu Hause ausgezogen bin, musste ich meinen Schlüssel abgeben. Mein Bruder durfte seinen Schlüssel behalten, als er ausgezogen ist – weil er nicht behindert ist. Meine Mutter hat gemeint, ich könnte nicht selbstständig sein, nicht auf meinen eigenen Beinen stehen. Da habe ich immer Konflikte gehabt. Wenn meinen Eltern was passiert wäre, hätte ich eingreifen können, mich um sie kümmern können – aber meine Mutter hat mich in ein Wohnheim abgeschoben, ohne mich zu fragen. Ich bin von der Schule wiedergekommen, und da hat meine Mutter zu mir gesagt: „So, du gehst jetzt ins Wohnheim.“ Sie hatte da meine Sachen schon gepackt, als ich in der Schule war. Mein Zimmer war leer. Das fand ich nicht nett. Ich war entsetzt und wütend und habe richtig geweint, als ich in meinem Zimmer war. Weil ich mich nicht darauf vorbereitet hatte. Auf Diskussionen hatte ich keine Lust gehabt. Das hätte nichts gebracht. Sie macht Sachen, sie denkt nicht darüber nach, wie es mir geht. Mein Vater hätte gerne gehabt, dass ich noch zu Hause gewohnt hätte. Mein Vater war ganz anders als meine Mutter. Warum meine Mutter das gemacht hat? Keine Ahnung. Da war ich noch jung – 23, 24 war ich da. Am 5. November 1988 bin ich ausgezogen, ins Betreute Wohnen.
Als ich schon im Wohnheim gewohnt habe, 1989, da hat meine Mutter mich sterilisieren lassen – das war am 5. Mai, mit 25, in Köln. Mein Bruder hatte ’ne Freundin, die war Arzthelferin, und bei der in der Praxis wurde das gemacht. Ich wusste nicht, was da beim Arzt passiert. Meine Mutter hat sich nichts anmerken lassen. Sie hat ein Geheimnis draus gemacht. Mein Vater hat mich vorher im Bad untenrum rasiert. Der hat das ungern gemacht, aber er hat gesagt: „Das muss sein.“ Er wollte noch ein Männergespräch mit mir führen, aber meine Mutter kam dazwischen. Beim Arzt bekam ich eine Spritze in mein Geschlechtsteil. Die Operation hat sich komisch angefühlt. Ich hab Kopfhörer dabeigehabt und auf der Liege da gelegen – mit meinem eigenen roten Walkman, den hatte ich mitgebracht. Der war noch mit Kassette. Da drin waren die Bläck Fööss – live aus dem Millowitsch-Theater.
Danach hat meine Mutter mir das erzählt. Sie hat zu mir gesagt: „So, Jochen, jetzt bist du ein Mann. Jetzt bist du sterilisiert und kannst keine Kinder mehr kriegen.“ Das fand ich gemein. Das hat meinen Charakter verletzt. Das musste ich in meinem Kopf alles sortieren. Ich saß im Auto und habe geweint. Ich hatte vorgehabt, eine Familie zu gründen. Mit zwei Kindern. Mich um meine Frau zu kümmern. Das hatte ich vorgehabt. Jetzt konnte ich keine Kinder mehr kriegen. Das habe ich erst nicht verstanden. Ich habe da wochenlang dran gekaut. Da hatte ich dran zu knabbern. Ich habe nicht verstanden, warum oder weshalb meine Mutter das gemacht hat. Sie hat mir meinen Traum genommen. Meine Mutter hatte immer Panik, dass ich durch meine Behinderung nicht selbstständig sein kann. Wir sind dann nach Hause gefahren. Für meine Mutter war das Thema gegessen. Und ich – ich war richtig wütend. Bis heute.