Hiltner Hans-Martin

Hans-Martin Hiltner wurde am 5. Mai 1960 als erstes von vier Kindern (das zweite verstarb im Alter von 6 Monaten am Plötzlichen Kindstod) von Dr. Regina und Dr. Gerhard Hiltner in Leipzig in Deutschland geboren. Papa und Mama waren Ärzte. Bei seiner Geburt kam es zur Sauerstoffknappheit. Davor hatte sich seine Mutter als junge Ärztin zu Beginn der Schwangerschaft, von der sie noch nichts wusste, bei einer Sprechstunde mit Röteln angesteckt.

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Verletzt (Hauptpreis 2018)

Ich werde verletzt.

Bei meiner Geburt, es war ein Sonntag, gab es zu wenig Ärzte. Die rufende Mutter wurde Stunden um Stunden vertröstet. Mein Gehirn wurde durch Sauerstoffknappheit und eine Hohe Zange verletzt.

Bereits davor wurde ich im Mutterleib durch Rötelnviren, mit welchen sich die Mutter als junge Ärztin bei Patienten unverschuldet angesteckte, verletzt.

Meine Eltern waren fürsorglich zu mir und meinen Geschwistern. Meine Schwester nahm mich in ihrer Schulzeit zu einer Schulveranstaltung mit. Wir beide wurden durch Häme verletzt.

Bildung durch eine Sonderschule wurde mir verwehrt, mein großes Interesse an der Welt fand keine Förderung. Das hat mich verletzt.

Ich lernte zu überleben, ich tobe nicht mehr, wenn ich die Welt nicht verstehe, ich bin 58 Jahre alt. Die Ärzte sagen, ich habe den Geist eines Vierjährigen, dabei kann ich gut kombinieren und weiß so viel. Diese Unwissenheit der Ärzte sollte mich nicht mehr verletzen, tut es aber.

Warum werden die Menschen mit Behinderung in Heimen zusammen gelegt? Das stresst und verletzt nicht nur mich, sondern auch die Betreuer.

An den Tagen, an denen ich aus der Einrichtung zu meiner Familie komme, habe ich zuerst noch diese Tabletten-Müdigkeit, bin erstarrt. Dann aber laufe ich mit großen Schritten. Bin fröhlich. Grüße alle laut und gebe vielen ein Bussi. Winke jungen Mädchen zu. Was, zur Hölle, sind Verletzungen?!

Abends dann in der Einrichtung kommt wieder Chemie über meine Füße, ich stolpere über sie und verletze mich. Ich sehe verschwommen, kann nicht lachen oder weinen, werde starr. Dabei habe ich das Leben und meine liebe Familie so lieb. Ich weiß, es kommen wieder die guten Tage, und auch wenn es Kraft kostet, werde ich immer wieder die Freude suchen.

Wie sagt Albert Schweizer: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. Unverletzt.

Was mir durch den Kopf geht und ich mit Hilfe aufschreiben möchte. (Hauptpreis 2015)

Ich heiße Hans-Martin und bin ein fröhlicher Mensch.
Ich lebe gern.
Ich bin fleißig. In meiner letzten Werkstatt habe ich oft TAUSEND Stück gemacht, egal ob es zusammen gesteckte Kleiderbügel waren oder Wasserflaschenstöpsel.
Ich saß gern oben auf meiner Werkbank freute mich über die über alle Werkbänke wandernden Werkstücke.

Ich arbeite seit meinem 18. Lebensjahr in geschützten Werkstätten, zuerst bei der Firma Damen-Moden, dann bei einem Computerhersteller, dann erinnere ich mich noch an die Lindenwerkstätten. Mit anderen habe ich große Töpfe geschrubbt oder die Böden gereinigt. Oft machte einer von uns einen kleinen Spaß. Seit 5 Jahren darf ich nicht mehr arbeiten. Jetzt macht meine Arbeit in der Behindertenwerkstatt ein anderer, bei dem es schneller geht.

Am wohlsten fühle ich mich, wenn meine Familie bei mir ist.
Das seidige Haar meiner lieben Nichte, das manchmal so rötlich schimmert und das ich so gerne ansehe, erinnert mich an die Lichtreflexe der goldenen Bienenwachskerzen auf unserer Pyramide, die oben an der Decke in der alten Wohnung ein Muster warfen. Jeder in diesem plauderte gern im Treppenhaus mit mir.

Nachmittags durfte ich mit Papa nach seiner Arbeit zu den Patienten mitfahren. Alle hatten große Sorgen und starke Schmerzen. Mein Papa half ihnen. Ich war mitten drin und schaute ernst. Aber wenn wir uns verabschiedeten, waren sie alle heiter und froh.
Meine Mama, auch eine Ärztin, ist so geduldig und hat mich sehr lieb. Sie redet mit mir, singt mit mir, zeigte mir, wie das Leben geht. Manchmal als junger Mann war ich zornig, wenn ich etwas nicht verstand. Dann nahm sie mich in den Arm. Und erklärte es mir nochmal. Sie traute mir zu, allein Bus zu fahren. Bis auf einmal, wo ich auf einer fremden großen Straße stand und tobte, weil ich hilflos war, klappte es gut. Jetzt hat sie keine Kraft mehr. Jetzt kann ich sie halten, wenn sie wegen ihrer Erblindung stolpert. Jetzt bin ich für sie da, jetzt halte ich ihre Hand und umarme sie.

Zu den Feiertagen gehe ich mit meiner Schwester und meiner Nichte manchmal in die Kirche. Mir gefallen die feierlichen Menschen und die Lieder mit Orgel, ich kann alle Strophen. Und auch bei den Gebeten bin ich schneller als der Pfarrer, das ist mein kleiner Spaß. Ich bin immer der erste mit dem Amen. Dann schmunzeln die Leute. Aber für mich ist das so richtig. Es ist mir wichtig zu zeigen, dass ich mir wichtige Sachen auswendig merke. Eine fremde Schreibtischfrau entschied vor 50 Jahren, dass ich nicht einmal die Sonderschule besuchen durfte, sondern ich kam in eine Tageseinrichtung. Dabei lerne ich so gerne und kann viel. Beim Spazierengehen fange ich gleich aus der Tür weg mit Liedstrophen an, das ist mein Unterhaltungsangebot, und wenn die Begleitperson, also Schwester oder Nichte oder Heimbetreuer, mitsingen, gehe ich besonders schnell. Das gefällt es mir. In einer Stunde kamen wir kürzlich auf 35 Lieder – mit nicht nur einer Strophe.

Wenn ich an den Wochenenden bei meiner Familie bin, erledige ich vielfältige Aufgaben: Ich spiele 200-er Puzzles bis zu Ende, male im Malbuch, baue Lego, fädele Perlen zu einer Kette, schreibe Wörter nach, die meine Schwester vorschreibt, klebe Bilder auf, bringe auch den Mist hinaus und helfe im Garten. Was ich verstehe, mache ich gerne, man muss es mir erklären.

Im August hatte ich eine Nierenkrebs-Operation. Ich lag 9 Tage im Krankenhaus, zum Glück legte sich meine Mutti mit ins Spital-Zimmer, dass ich nicht alleine war. Manchmal wusste der Arzt nicht gleich, wen er ansprechen soll, weil die Mutti nicht sah, dass er ins Zimmer kam und ich war noch kaum wach. Das war schon wieder lustig. Ich war gar nicht der, der ich sonst bin und es war gar nicht wie immer. Ich zitterte und versuchte jede Minute aufzustehen und die Schläuche von mir zu reißen. Aber schon am 3. Tag zwinkerte ich den Schwestern zu. Krankenschwestern sind immer nett.

Jede Woche sehe ich auch meinen jüngeren Bruder. Sein großes Auto scheppert von der lauten Musik darin. Wir fahren zu Terminen oder zu ihm nach Hause, wo drei Menschen und drei Hunde leben. Manchmal sage ich aus Versehen zu ihm Papa, weil er jetzt aussieht wie mein Papa früher. Auch zu meiner Schwester sage ich manchmal Mama, denn oft erinnere ich mich besser an früher. Die Schwester zieht dann eine Augenbraue hoch und schaut in den Spiegel. Wir reden gern von früher und von alten Freunden wie Lisl Werner, einer Gesellschafterin früher oder Emil Lang, meinem Freund, der im Haus unter uns wohnte, oder meiner Oma Emma und Oma Eva oder den Opas und Tante Martel oder Tante Hanni, und dann freue ich mich. Das ist meine Vergangenheit, ein großer Teil von meinem Leben.

Ich freue mich sehr auf das weitere Leben. Bald kann ich im Sonnenschein wieder die abgeschnittenen Fliederzweige zum Kompost bringen. Ihr denkt, 10 Mal? Ich gehe 100 Mal und es macht mir jedes Mal gleich viel Spaß. Viele sagen, ich bin ein Schelm, weil ich manchmal Sachen an andere Plätze zurück lege als erwartet. Muttis Schlafanzug liegt manchmal unter meinem Polster. Sie sucht und regt sich auf. Und freut sich dann so, wenn ich ihn etwas später bringe. Dann lacht sie den ganzen Tag.

Ist das Leben nicht schön?